In den letzten knapp 24 Stunden habe ich gefühlt unzählige Artikel, Postings, Tweets, Kommentare und andere Reaktionen auf die Ereignisse in Paris gelesen. Ein Aspekt, der sich konsequent durch die Diskussion durchzieht, ist die Religion.[1] #PrayforParis ist einer der stärksten Hashtags in den Stunden nach den ersten Anschlägen gewesen. In deutschen Kommentaren mehrten sich die Vertreter, die eine Distanzierung ihrer muslimischen Mitbürger von den Attentaten erwarteten, wollen sie noch als friedliche Bürger und nicht als stille Unterstützer gelten. Religionskritiker machen Religion an sich für die Attentate verantwortlich, woraufhin vermutlich gläubige Menschen schreiben, dass, gäbe es die Religion nicht, Menschen nach anderen Begründungen für ihre Massaker suchen – und finden würden.
Erstmal der Reihe nach, etwas unsortiert und ungefiltert, und das wichtigste zuerst: so sehr ich Religion auch kritisiere und für größtenteils überflüssig halte[2], ich denke nicht, dass es mir zusteht, gläubige Menschen aufgrund ihres Glaubens zu verurteilen.
Eine Distanzierung von anderen Muslimen zu fordern, sei es vom Zentralrat der Muslime in Deutschland oder vom Nachbarn im Stockwerk über einem, ist nicht nur arrogant und überheblich, es reproduziert auch wieder eine gewisse Art der „weißen Überlegenheit“, in diesem Fall eine vermeintliche Überlegenheit des Christentums über den Islam, es reproduziert Islamophobie.
Eine Distanzierung von anderen Muslimen zu fordern ist unsinnig. Niemand forderte von Christen weltweit eine Distanzierung, als Anders Breivik in Norwegen Amok lief und über 70 Menschen tötete. Niemand verlangt von Christen, sich regelmäßig für den Ku-Klux-Klan und dessen Taten zu entschuldigen. Weder von den christlichen Institutionen wie Vatikan oder EKD (Evangelische Kirche in Deutschland), noch vom christlichen Nachbarn ein Stockwerk über einem.
Warum sich also jetzt auf einmal alle Muslime der Welt für ein paar Attentäter entschuldigen sollen, die vielleicht Muslime waren und ihrer Meinung nach im Namen des Islam gehandelt haben, entbehrt jeder Diskussionsgrundlage. Die Forderung ist einfach die Reaktion von weißen Christen, die sich in ihren Vorurteilen bestätigt sehen möchten, und umso schlimmer finde ich, dass sich Muslime tatsächlich genötigt fühlen, sich u.a. unter dem Hashtag #notinmyname distanzieren zu müssen.
Beim Thema Verantwortung der Religion bzw. Religion als Wurzel alles Bösen ist die Sachlage etwas komplizierter. Sicherlich ist es falsch, einzig der Religion an sich – egal welcher Konfession – die alleinige Schuld an den jüngsten Terroranschlägen zu geben. Zum einen ist dafür die Situation im Nahen Osten seit Jahrzehnten zu komplex, um sie einfach mit dem Menschheitsphänomen Religion erklären und verdammen zu können. Meiner Meinung sind vielmehr die systematische Destabilisierung der Region durch unzählige Kriege, bewusst geschürte Krisen und Waffenlieferungen an alle Parteien eines Konfliktes Ursache für die Lage im Nahen Osten und Anschlägen. Damit meine ich nicht nur die Akte in Paris, sondern auch in Beirut und in Bagdad – bei denen wohlgemerkt auch Muslime umgekommen sind. „Terror knows no Religion“, passender konnte es in den sozialen Netzwerken nicht auf den Punkt gebracht werden. Terroristische Akte sind nichts anderes als gewaltsame Taten einer politischen Agenda. Dass diese dann von den Ausführenden mit Religion begründet wird, ist erst der zweite Schritt.
In diesem zweiten Schritt kann man das Konzept Religion durchaus zur Verantwortung ziehen. Religion mag nicht die Ursache für die Konflikte und Kriege sein, das sind nach wie vor politische Agenden und das Streben nach Macht, aber sie liefert in ihren verschiedenen Konfessionen immer Begründungen und Rechtfertigungen. Mir ist bisher nur eine Religion bekannt, in deren Namen bisher kein Krieg geführt wurde, und das ist der Jainismus.[3] Ansonsten haben alle mir bekannten (noch praktizierten) Religionen ein starkes „Wir – Die“-Gefälle, die eine Unterdrückung von Andersgläubigen möglich macht und rechtfertigt. Ob Islam oder Christentum, Judentum, Hinduismus oder Buddhismus, sie alle haben gemeinsam, dass sie Andersgläubige mal respektieren und tolerieren, aber in den jeweiligen, „heiligen“ Schriften gibt es auch genügend Stellen, Kriege und Massaker zu begründen.
Ein anderer Aspekt, der in diesem Zusammenhang absolut nicht vernachlässigt werden sollte, ist die Ansicht von Religionen, das jetzige Leben sei ein schlechtes Leben. Egal ob Nirvana, Paradies, Leben nach dem Tod, alles ist erstrebenswerter als dieses Leben, das voller Sünde, Schlechtigkeit und Bösem sei. Das eigene Leben ist im nächsten Leben so viel mehr Wert als im jetzigen, das Leben von andersgläubigen Menschen ist dann noch viel weniger wert, da diese ja nicht den „wahren Weg“ gefunden haben. Das ist natürlich sehr überspitzt formuliert, und wie bereits gesagt: Terror ist unabhängig von Religion, sonst würde man kaum Anschläge begehen, bei denen Glaubensmitmenschen sterben. Trotzdem dient diese Argumentation immer wieder zur Rechtfertigung von Kriegen. Egal ob Kreuzzüge, islamische Expansion im 7. Jahrhundert, buddhistische Unterdrückung…es sind nur einige Beispiele, bei denen angeblich im Sinne einer Religion, im Einklang mit dem Willen des/der jeweiligen Gottheit/Götter/Philosophien gehandelt wurde. Trotzdem liegt allem das Moment des Strebens nach Macht und der Herrschaft des einen über den anderen zugrunde. Man mag sagen, dass Religion(en) immer wieder instrumentalisiert wurde(n), allerdings ist sie auch einfach wie dafür gemacht. In Schriften und Texten werden menschliche Handlungen immer wieder erklärt, gerechtfertigt und mit dem Willen einer transzendenten Entität in Einklang zu bringen versucht. Dass diese Schriften mitnichten heilig oder göttlichem, übernatürlichem Ursprungs sind, sondern einzig der Feder von Menschen entsprangen, wird in der Regel außer Acht gelassen. Dennoch sieht man an der Entstehungsgeschichte von Texten und schriftlichen Kanons, wie sie sich aktuellen politischen Situationen angepasst haben. Institutionelle Religion ist in ihrer Werdens- und Wirkungsgeschichte immer vor allem Instrument zur Machterlangung, Machterhaltung und Fixierung der Herrschaft von Menschen über Menschen.
Und genau das ist es, was zuletzt in Bagdad, Beirut und Paris geschehen ist. Terroristen haben versucht, Macht auszuüben. Macht über jemanden zu haben ist nicht gleichbedeutend mit Herrschaft über denjenigen/diejenige, Macht kann man auch einfach durch Angst erlangen. Dass hierfür eventuell eine Religion als Rechtfertigung benutzt wurde, hat nichts mit Glauben[4] zu tun, sondern mit dem Streben nach Macht und Herrschaft.
[1] Neben Rassisten, die sich durch diese Anschläge noch weiter in ihrem menschenverachtenden Weltbild und ihrer Paranoia bestätigt fühlen…
[2] Größtenteils, denn es gibt Menschen, die Religion als Alltagsstütze brauchen, haben wollen oder auf andere Art angewiesen sind, dies aber nicht zu proklamieren müssen denken.
[3] Über die repressiven, z.T. diskriminierenden Aspekte in dieser Religion zu schreiben, würde an dieser Stelle zu weit vom Thema führen.
[4] An dieser Stelle sei noch kurz gesagt, dass Religion und Glaube zwei verschiedene Dinge sind. Religion ist eine politische Institution, Glaube ist etwas sehr persönliches. Man kann an eine transzendente Macht Glauben, ohne sich einer Religion zugehörig zu fühlen oder mit der Religion, an deren Entität man glaubt, völlig konform zu gehen.