Disclaimer 2: Jeder Mensch kann vergewaltigt werden. Cis-Personen, Transpersonen, jedes Geschlecht, jede Orientierung, ungeachtet der Herkunft, des Alters, sozialen Status, Aussehen…Ich berichte hier u.a. von meinen eigenen Erfahrungen als Cis-Frau. Wenn ich von mir spreche, gendere ich nicht.
Disclaimer 3: Bei diesem Thema bin ich extrem sensibel und habe eine kurze Lunte. Kommentare, die mich oder andere Survivors beleidigen, herabsetzen oder unsere Erfahrungen relativieren (wollen), oder Rape Culture reproduzieren, werden nicht freigeschaltet bzw. gelöscht bzw. editiert.
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Ich bin ein Rape Survivor, zu Deutsch: Überlebende einer Vergewaltigung.1
Und ich lege Wert darauf, Survivor/Überlebende und nicht Opfer genannt zu werden. Das gängige Narrativ des Vergewaltigungsopfer ist so eng, viele Überlebende finden sich darin nicht wieder und ersticken bei dem Versuch der Gesellschaft, hineingepresst zu werden. Zudem habe ich das Gefühl, dass mit “Opfer” die Vorstellung von Passivität und Hilflosigkeit einhergeht. Damit kann – und will – ich mich nicht identifizieren bzw. nicht indentifiziert werden.
Wie sich Opfer einer Vergewaltigung verhalten zu haben:
Angst vor Männern2, Angst vor Sex (für den Rest ihres Lebens), in weiter, unauffälliger Kleidung rumlaufen, stundenlang unter der Dusche sitzen, sich dreckig fühlen, sich schuldig fühlen.
Es gibt Überlebende, die sich so, so ähnlich oder teilweise so verhalten, und dieses Verhalten ist absolut okay! Auf mich treffen aber nur drei der oben genannten Aspekte zu: ich bin weiblich, ich bin weiß, und ich bin (relativ) jung. Ansonsten finde ich mich in dem Narrativ kaum wieder. Wie tief dieser eine Aspekt der Rape Culture aber in mir verankert ist merkte ich nach meiner Vergewaltigung: tiefer als mir lieb ist.
Fragen am selben Tag
Ist das gerade wirklich passiert? Habe ich mich nicht deutlich genug gewehrt?
Es geht nicht um (ab)wehren. Es geht um Zustimmung.
Man muss nicht “Nein!” schreien um deutlich zu machen, dass man gerade keine Lust auf Sex hat. Man muss auch nicht die Hand wegschieben, die Beine zusammendrücken, sich wegdrehen um “anerkanntermaßen” keine Zustimmung gegeben zu haben. Wenn man etwas getrunken hat oder schläft oder ohnmächtig oder schlaftrunken ist, wie soll man all das machen? Wenn man Angst hat, verwirrt ist, nicht einordnen kann, was da gerade passiert, wie soll man das machen? Wenn man sich verbal nicht eindeutig positiv zum Sex äußert oder entsprechende Anstalten macht, ist das keine Zustimmung.
Und auch wenn man sich wehrt können einen irgendwann die Kräfte verlassen oder man resigniert und gibt auf. Das ist kein Zeichen von Schwäche! Man kann von keinem Menschen verlangen, immer bis zum ende zu kämpfen. Vergewaltigungen können tödlich enden, vor allem aber können sie mit massiver körperlicher Gewalt einhergehen. Sich nicht mehr zu wehren kann schlicht ein Schutzmechanismus sein “um es hinter sich zu bringen”.3
Auch wenn das Ausbleiben von Gegenwehr als Zustimmung umgedeutet wird, es ist keine. Wie ein Brett daliegen und hoffen, dass es möglichst schnell vorbei ist, ist keine Zustimmung.
Wer in Sachen Einwilligung noch Fragen hat, schaue sich dieses Video an:
Ich lache. Darf ich überhaupt schon wieder lachen?
Der Opfermythos sagt, dass Überlebende still, vielleicht auch apathisch und kaum ansprechbar sind. Oder sie sind in Tränen aufgelöst, können sich kaum artikulieren und sind auch in diesem Fall kaum ansprechbar.
Als ich die Polizei rief, hatte ich meine beste Freundin und meinen Bruder an meiner Seite, zwei der Menschen, die mich und vor allem meinen Humor kennen, und die mich den Tag mit der Polizei, der Gerichtsmedizin und meiner Erschöpfung begleiteten.
Ich habe schnell wieder gelacht, wenige Stunden nach der Vergewaltigung. Zwar meinten beide Monate später, als wir darüber sprachen, dass es schrill und “ziemlich drüber” war, aber das ist okay. Lachen ist wie weinen eine völlig normale Reaktion auf eine Stresssituation. Ob es eine Übersprungshandlung war? Bestimmt. Würde ich heute anders reagieren? Wohl kaum. Es tat gut zu lachen, es nahm der Nacht ein bisschen den Schrecken und vor allem erkannte ich mich selbst unter dem ganzen Schock. Ich kann nichts dafür, dass mein Humor katastrophenresistent ist. Nach einer Vergewaltigung ist weinen okay, schweigen okay, lachen okay.
32 thoughts on “[Sturmkrähe] Rape Culture won’t get me down – #redmylips”
Ich bewundere dich! Für deine Offenheit darüber zu sprechen und wie du darüber sprichst! Ich hoffe deine Worte ziehen große Kreise und erreichen viele weitere Menschen die das oder ähnliches erlebt haben, um 1. zu spüren das sie nicht alleine sind, 2. das jede*r individuell mit solch einem einschneidendem Erlebnis umgeht, 3. das es okay ist wie wer damit umgeht, ganz egal was da erwartet wird!
:-* <3
#redmylips!
Naaaw *hug*
(sorry, ich bin gerade echt unkreativ mit einer Antwort…)
<3 <3 <3
Toll! Danke, dass du den Mut hast, so offen darüber zu sprechen. Menschen wie dich braucht es! Es tut mir sehr leid, was dir passiert ist! Und ich finde es super, wie offen du damit umgehst. Ein Satz gefällt mir besonders gut: “Ich bin nur an einer Vergewaltigung schuld, wenn ich die Vergewaltigerin bin” Top gesagt!
Danke für den tollen Artikel! LG Julie
Moin Julie,
danke für deine Worte. Wie gesagt, ich rede ja eh schon drüber, auch schon als der Hashtag #metoo durch die sozialen Medien brach. Ein Blogartikel war im Grunde nur der nächste logische Schritt, und #redmylips ist der perfekte Anlass 🙂
Cheerio Mareike
Hallo Mareike,
ein starker Text, der den Hashtag #redmylips für mich verständlicher gemacht hat und die Wichtigkeit dieser Aktion unterstreicht. Vielen Dank dafür!
Viele Grüße,
Jemima
Hey Jemima, toll, dass der Artikel da helfen konnte 🙂
Cheerio Mareike
Respekt. Mehr bringe ich gerade nicht heraus.
Und Schuld ist IMMER nur der/die TäterIn.
Ich bin sprachlos. Danke dir, für diesen ehrlichen Text, zu hast wirklich tolle Worte gefunden und ich habe das Gefühl, einiges daraus mitnehmen zu können!
Allerliebste Grüße, Celine
Hey Celine,
freut mich, dass du den Artikel so aufgenommen hast 🙂
Cheerio, Mareike
Danke für diesen ehrlichen Artikel! Darf ich was fragen? Wie hast Du die Zeit nach der Anzeige im Hinblick auf die Behörden erlebt? Musstest Du zur Gerichtsverhandlung und wurde der Täter verurteilt?
Da der Täter bisher wohl nicht gefasst ist (obwohl voller Name und Handynummer bekannt sind und laut LKA Fluchtgefahr in ein anderes EU-Land besteht), gab es auch noch keine Gerichtsverhandlung. Ich habe ehrlich gesagt das Gefühl, dass die Behörden nicht alles tun was möglich wäre bzw. der Fall inzwischen hintenan steht und nur noch rausgeholt wird, wenn ihnen was in den Schoß fällt. Das Facebookprofil ist bekannt, da kündigt er oft an, wo er sich wohl rumtreiben wird. Dass er noch nicht gefasst ist, ist kein geiles Gefühl weil es im Grunde so leicht scheint. Ich denke aber nicht drüber nach. Irgendwann bekomme ich einen Brief von der Staatsanwaltschaft. Entweder, weil das Verfahren eröffnet wird – oder eben eingestellt…
Genau das habe ich befürchtet, man hört leider zu oft, dass es genauso läuft. Bei einer meiner Freundinnen war es genau das gleiche Spiel. Ich finde das so furchtbar, wie allein ihr damit gelassen werdet.
Hm, von der Polizei vielleicht, und von der Krankenkasse, was eine Traumatherapie angeht. Allein gelassen fühle ich mich sonst (dankenswerterweise) nicht, was an meiner Familie und meinen Freunden liegt. Die beiden Netzwerke sind unglaublich stark, ein Brett ist nichts dagegen. Das Glück hat nicht jede_r.
In meinem Fall ist das Gerichtsverfahren ja weder eröffnet noch eingestellt, und zum Stand der Ermittlungen bekommt man als Geschädigte_r keine Auskunft…
Hi Mareike, nichts als die Wahrheit, danke für deine Offenheit und den anderen Blickwinkel, der sich mir geöffnet hat.
Liebe Grüße Tina
Moin Tina, schön, dass dir der Artikel da helfen konnte 🙂 Was für einen Blickwinkel hattest du denn vorher?
Cheerio Mareike
Den Blickwinkel des “Survivor”. In den Medien wird immer nur das Klischee ausgepackt, selten wird der Kampfgeist gezeigt, stattdessen nur die Verletzlichkeit. Wie du schon sagtest, das gibt es und jeder hat das Recht darauf! Aber es gibt auch jene Menschen, die sich schnell aufraffen, ihr Leben in der Hand behalten. Ich finde, genau das sollte auch gezeigt werden. Das macht doch Mut, oder etwa nicht? Auch Mut sich zu äußern, nicht zu schweigen, zu leben, dem Täter den Mittelfinger zeigen.
Liebe Mareike,
wow, danke für deine Offenheit. Ich bin unglaublich bewegt und beeindruckt von deiner Stärke. Ich finde es unglaublich, dass dieser Kerl sich bei dir per Facebook noch gemeldet hat und nicht mal verstanden hat, was er da getan hat. Da bleiben mir einfach die Worte weg. Ich wünsche dir von Herzen, dass irgendwann die Flashbacks und schlaflosen Nächte erträglicher werden und vielleicht sogar verschwinden. Fühl dich von Herzen umarmt. Und nochmals danke dir für deine offenen Worte.
Liebe Grüße Tamara
Naaaw, danke 🙂 Schlaflose Nächte hatte ich Dank Schlafstörungen schon vorher, und wenn ich sie jetzt habe, ist der Mann kein Thema davon. Die Flashbacks sind fieser, aber ich habe einen guten Umgang damit gefunden.
Ich denke halt, für den Mann ist diese Art von Sexualität “normal”. Damit will ich sein Verhalten nicht entschuldigen, aber es erklärt warum er da so stumpf war/ist. Er hat sich benommen als wäre es das Natürlichste der Welt sich so zu verhalten wie er es in der Nacht getan hat.
Cheerio Mareike
Moin Mareike,
ich suche jetzt schon ein wenig länger nach den richtigen Worten. Erstmal: Klasse Artikel! Toll, dass du den Mut hast das so öffentlich zu machen. Falls (WENN!) es zu einem Verfahren kommt, wünsche ich dir viel Kraft!
Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich selbst ‘nur’ sexuelle Belästigung erlebt habe bisher und auch das nicht in wirklich schlimmen Formen. Das ist nicht selbstverständlich (für meine Eltern allerdings schon, auf meiner Heimatinsel kennt quasi jeder jeden. Das ist eine nicht zu unterschätzende Kontrollinstanz).
btw. ich feier ja die Beitragsbilder <3
Liebe Grüße, Lena
Moin Lena!
Sexuelle muss man trotzdem nicht haben, Kontrollinstanz Dorf hin oder her 😉 Aber ich bin trotzdem froh, dass du bisher “nur” das erlebt hast, muss ja nicht schlimmer werden.
Und ja, die Beitragsbilder mag ich auch. Hat Vera gut fotografiert 😀
Cheerio Mareike
Damals, vor Jahren, ich: “Hör auf, hör bitte sofort auf!” Er: “Ja Moment, bin gleich fertig.” …
Und er hörte erst auf, als er befriedigt war.
Genau den selben „Dialog“, den ich erlebt habe. Ich habe Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass er in diesem Moment eine Grenze überschritten hat. Aber ich war jung, unerfahren und es war die erste große Liebe. Manchmal möchte man das nicht realisieren bzw. kann es nicht richtig einordnen. Heute weiß ich es besser. Wer nein sagt, auch wenn man mitten beim Sex ist, meint auch nein. Und dann gibt es kein „schnell mal noch fertig werden und abspritzen“.
Danke für diesen Blogpost❤️
Mareike, danke. Dieser Beitrag ist so ehrlich, so verletzlich, so wichtig! Danke, dass du deine Geschichte mit uns geteilt hast, ich habe den größten Respekt vor deinem Kapfgeist und bin sehr froh, dass du trotz dieses Erlebnisses dir nicht die Lebensfreude hast nehmen lassen. Ich finde es echt toll, dass du den Kerl direkt angezeigt hast, dass du dich von ihm nicht hast verunsichern lassen und dass deine Familie und deine beste Freundin so sehr hinter dir stehen. Dein Beitrag hat mich mit dir leiden , aber auch aufmachen lassen(die Beschreibung deiner Beziehung zu deinem pflegekater ist einfach mal herrlich!) aber ich fand ihn auch auf so vielen Ebenen augenöffnend. Danke ❤️
Ich bin total geplättet von deinem Beitrag. Du hast meine größte Bewunderung, wie du über die Vergewaltigung sprichst. Ich hoffe, du kannst damit auch anderen Mut machen, darüber offen zu sprechen und vor allem sich so zu verhalten wie sie wollen und nicht wie die Gesellschaft denkt, das man sich verhalten sollte. Ich kann es nur wiederholen, ein wirklich toller Beitrag!
Liebe Grüße Diana
Liebe Mareike, ich will gar nicht viel sagen. Ich bin baff – Du bist mutig, du stehst zu dir, du bist stark und reflektiert. Dieser Blogeintrag ist offen und unglaublich wichtig und ich möchte dir dafür danken. Danke, dass du so bist wie du bist. Ich meine, ich hab das schonmal gesagt, aber du bist in vielen Punkten ein Vorbild für mich.
Ganz viel Respekt und vor allem ganz, ganz, ganz viel Liebe für dich, du wunderbarer Mensch! <3
Du hast meinen größten Respekt! Gerade weil du so damit umgehst wie du es tust.
Edit Mareike: Triggerwarnung: Sexueller Übergriff, Rape Culture, Own Voice
Liebe Mareike,
danke für deinen offenen Beitrag. Er ist mir sehr nahe gegangen und hat mir auch geholfen, Survivors und damit auch mich ein wenig besser zu verstehen. 🙂
Mir ist auch einmal etwas in der Richtung passiert und obwohl es damals nicht zum Äußersten kam, waren die Gefühle, die der Vorfall in mir ausgelöst hat, sehr widersprüchlich und verunsichernd.
Ich muss dazu sagen, dass ich damals noch ziemlich jung war (14, wenn ich mich nicht irre). Mittlerweile bin ich 29. Es ist also wirklich schon lange her, aber es hat meinen Blick auf potentielle oder tatsächliche Täter nachhaltig geprägt. Der Täter war damals jemand aus der Familie: der Ehemann der Tante meiner Halbgeschwister. Eigentlich mag ich es nicht, meine Brüder und meine Schwester als Halbgeschwister zu bezeichnen. Geschwister sind Geschwister. Aber noch heute habe ich das Bedürfnis, mich so weit wie möglich von diesem Mann zu distanzieren. Damals hatten wir zu Hause noch kein Internet, denn es war teuer, meine Eltern sahen keinen Sinn darin und hatten auch keine Ahnung von sowas. Also bin ich gelegentlich zu dieser Tante gefahren, um dort etwas zu surfen und zu chatten. Der PC stand etwas versteckt in einer Ecke im Wohnzimmer. Von dort aus konnte man auf die Couch blicken. Wie auch immer. Als ich ankam öffnete mir dieser Typ die Tür. [Meine] Tante lag auf dem Sofa und schlief. Sie war zu dem Zeitpunkt hochschwanger mit dem 2. Kind. Er meinte, er müsse noch eben etwas am PC erledigen, dann könnte ich ran. Ich solle mich aber schon einmal davor setzen. Okay, also setzte ich mich auf den Stuhl neben seinem und wartete, während er sich erst einmal knallhart Pornos runterlud. Das allein fand ich schon unangenehm. Ich meine, ich bin aufgeklärt und locker erzogen worden, aber ich finde, dass in dem Moment schon klar eine Grenze überschritten wurde. Dann fing er an, sich einen von denen anzusehen und sich dabei einen runterzuholen, wobei er mich immer wieder ansah. Wie gesagt, ich saß unmittelbar neben ihm und konnte unmöglich ignorieren oder nicht mitbekommen, was er da tat. Irgendwann kam er dann und der Spuk war vorbei. Ich wusste überhaupt nicht, wie ich mich verhalten sollte, schließlich lag seine Frau in Luftlinie 4 m Entfernung auf der Couch. Na ja. Ich surfte also im Internet, was jedoch ein extrem kurzer “Spaß” war und irgendwann verabschiedete ich mich dann schon nach kurzer Zeit unter einem Vorwand. Hauptsache weg. An der Tür bläute er mir noch einmal an, dass das unter uns bleiben solle und ich das niemandem zu erzählen habe. Ich nickte, verließ das Haus und fuhr mit meinem Fahrrad dann so schnell wie möglich nach Hause.
Erst am nächsten Tag habe ich es dann meinem Stiefvater erzählt (der Bruder der oben genannten). Er war schockiert, reagierte jedoch mit sehr viel Ruhe und Verständnis und kümmerte sich auch sofort um alles. Meine Mutter fuhr mit mir noch am selben Tag zur Polizei, um Anzeige zu erstatten. Im Präsidium fühlte ich mich überhaupt nicht ernstgenommen. Ich hatte das Gefühl, man würde mir nicht glauben, zumal ich lieber mit einer Frau als einem Mann gesprochen hätte. Aber dass das unter Umständen nicht ging, war nicht das Problem. Der Polizeibeamte meinte halt, dass man da sowieso nichts machen könne, aber wenn ich “unbedingt” Anzeige erstatten wolle, würde er meine Aussage nun aufnehmen und so weiter. Außerdem solle ich nicht vergessen, welche familiären Probleme eine Anzeige auslösen würde. Ich glaube, der hatte seinen Beruf verfehlt.
Die Reaktion der Familie meines Stiefvaters war ebenfalls unter aller Sau, auch wenn sie erst später einsetzte. Sein Vater meinte, ich solle mich nicht so anstellen und ich müsste mich auch nicht wundern, dass so etwas passieren konnte, so wie ich immer rumlaufen würde. Keine Ahnung, was er damit meinte, denn ich trug zu der Zeit am liebsten Jeans und Rollkragenpulli… Die Mutter meinte, ich solle mich für das schämen, was ich der armen S. (Tante) damit antäte. Der U. (der Typ) müsse nun eine Geldstrafe von 750,00 € leisten und (ich glaube) 30 Pflichtstunden bei einem Psychiater absitzen. Ich hätte mich ja wohl nicht so anstellen müssen und wahrscheinlich hätte ich ja sowieso nur übertrieben.
Die hatten mich fast soweit, dass ich das selbst glaubte… Ganz oft war da der Gedanke “aber er hat mich ja nicht angefasst”, oder “es war ja keine Vergewaltigung”. Stimmt. Es kam nicht zum Geschlechtsverkehr. Aber er hat meinen Kopf gefickt, was ich spätestens dann merkte, als ich in dem kleinen Ort im Supermarkt an der Kasse stand und ich ihn hinter mir sah. Ich wurde panisch, bekam Herzrasen und bin dann regelrecht geflüchtet, wobei ich meine Klamotten einfach auf dem Kassenband liegen ließ. Ich hatte Schiss vor ihm. Da war immer die Angst “Was, wenn das nur der Anfang war? Was, wenn er mich wirklich vergewaltigt?”. Von dem Vertrauensbruch möchte ich gar nicht erst anfangen…
Ich habe den Mann seitdem nie wieder gesehen. Keines meiner Geschwister durfte wieder dorthin. Wenn sie mit ihrem Cousin spielen wollten, musste S. ihn zu uns bringen. Ich konnte schon am dritten Tag wieder ganz normal lachen, was aber blieb, war eine irrationale Angst vor einem bestimmten Typ Mann. Außerdem entwickelte ich einige Monate danach Depressionen, wegen derer ich schließlich auch in Behandlung war. Ich habe mich damals viel mit der Frage auseinandergesetzt, ob ich jetzt irgendeine Erwartungshaltung erfüllen musste. Musste ich verstört sein? Wollte ich doch aber nicht, denn ich wollte nicht, dass es jemand erfuhr. Andererseits wollte ich es der ganzen Welt erzählen, weil ich mich beschissen fühlte und glaubte, mich rechtfertigen zu müssen. Durfte ich überhaupt noch lachen, oder ausgelassen sein? War es in Ordnung ein Interesse an Jungs zu haben bzw. an Mädels? Damals hatte sich schon heraus kristallisiert, dass ich beides mochte. Trotzdem war ich ein Spätzünder und habe meine ersten richtigen sexuellen Erfahrungen erst ziemlich spät gemacht. Ob es da eine Wechselwirkung gab, kann ich nicht sagen. Heute empfinde ich meine Sexualität als normal und aufgeschlossen.
Mein Kommentar ist jetzt etwas ausgeufert, aber dein Artikel hat mich einfach dazu ermuntert, einmal offen darüber zu schreiben, ohne Angst haben zu müssen, dass meine Erfahrungen als nichtig deklariert werden… Im engeren Bekanntenkreis kann ich offen darüber sprechen, auch wenn ich die Sache da oft selbst etwas relativiere, oder gar ins Lächerliche ziehe, aus Angst, man könnte mich belächeln, obwohl das Blödsinn ist.
Dieser Vorfall und die zerrüttete Beziehung (sofern überhaupt existent) zu meinem leiblichen Vater haben, meiner Meinung nach, mein Verhältnis zu Männern nachhaltig gestört. Ich bin zwar in einer langjährigen Beziehung und sehe auch nicht in jedem Mann den Teufel, aber ganz oft übernimmt dann eben auf emotionaler Ebene der Autopilot die Kontrolle. In solchen Momenten rechne ich mit Zurückweisung, Vertrauensbruch und damit, dass man(n) mich gerade bewusst manipuliert, um einen Nutzen daraus zu ziehen. Meistens sind diese Ängste irrational und durch einen Trigger ausgelöst, aber ich reagiere immer damit, dass ich gegen diese Person schieße, um mich selbst zu schützen.
Im Nachhinein kam übrigens heraus, dass U. diese Dinge auch bei anderen Frauen (bei meiner Mutter, seiner Schwester und einer Bekannten) getan hatte…
Das war’s. Mehr habe ich gerade dazu nicht mehr zu sagen… Vielen Danke noch einmal für deine Ehrlichtkeit und Offenheit. Ich glaube, dass du damit vielen Frauen helfen kannst, offener mit ihren Erfahrungen umzugehen und vielleicht auch mit einem frischen Blick auf ihr Selbstbild zu schauen.
Ich bewundere dich! Für deine Offenheit darüber zu sprechen und wie du darüber sprichst! Ich hoffe deine Worte ziehen große Kreise und erreichen viele weitere Menschen die das oder ähnliches erlebt haben, um 1. zu spüren das sie nicht alleine sind, 2. das jede*r individuell mit solch einem einschneidendem Erlebnis umgeht, 3. das es okay ist wie wer damit umgeht, ganz egal was da erwartet wird!
:-* <3
#redmylips!
Naaaw *hug*
(sorry, ich bin gerade echt unkreativ mit einer Antwort…)
<3 <3 <3
Toll!
Danke, dass du den Mut hast, so offen darüber zu sprechen. Menschen wie dich braucht es!
Es tut mir sehr leid, was dir passiert ist! Und ich finde es super, wie offen du damit umgehst. Ein Satz gefällt mir besonders gut: “Ich bin nur an einer Vergewaltigung schuld, wenn ich die Vergewaltigerin bin” Top gesagt!
Danke für den tollen Artikel!
LG Julie
Moin Julie,
danke für deine Worte. Wie gesagt, ich rede ja eh schon drüber, auch schon als der Hashtag #metoo durch die sozialen Medien brach. Ein Blogartikel war im Grunde nur der nächste logische Schritt, und #redmylips ist der perfekte Anlass 🙂
Cheerio
Mareike
Hallo Mareike,
ein starker Text, der den Hashtag #redmylips für mich verständlicher gemacht hat und die Wichtigkeit dieser Aktion unterstreicht. Vielen Dank dafür!
Viele Grüße,
Jemima
Hey Jemima,
toll, dass der Artikel da helfen konnte 🙂
Cheerio
Mareike
Respekt. Mehr bringe ich gerade nicht heraus.
Und Schuld ist IMMER nur der/die TäterIn.
Ich bin sprachlos. Danke dir, für diesen ehrlichen Text, zu hast wirklich tolle Worte gefunden und ich habe das Gefühl, einiges daraus mitnehmen zu können!
Allerliebste Grüße,
Celine
Hey Celine,
freut mich, dass du den Artikel so aufgenommen hast 🙂
Cheerio,
Mareike
Danke für diesen ehrlichen Artikel!
Darf ich was fragen? Wie hast Du die Zeit nach der Anzeige im Hinblick auf die Behörden erlebt? Musstest Du zur Gerichtsverhandlung und wurde der Täter verurteilt?
Da der Täter bisher wohl nicht gefasst ist (obwohl voller Name und Handynummer bekannt sind und laut LKA Fluchtgefahr in ein anderes EU-Land besteht), gab es auch noch keine Gerichtsverhandlung. Ich habe ehrlich gesagt das Gefühl, dass die Behörden nicht alles tun was möglich wäre bzw. der Fall inzwischen hintenan steht und nur noch rausgeholt wird, wenn ihnen was in den Schoß fällt. Das Facebookprofil ist bekannt, da kündigt er oft an, wo er sich wohl rumtreiben wird. Dass er noch nicht gefasst ist, ist kein geiles Gefühl weil es im Grunde so leicht scheint.
Ich denke aber nicht drüber nach. Irgendwann bekomme ich einen Brief von der Staatsanwaltschaft. Entweder, weil das Verfahren eröffnet wird – oder eben eingestellt…
Genau das habe ich befürchtet, man hört leider zu oft, dass es genauso läuft. Bei einer meiner Freundinnen war es genau das gleiche Spiel. Ich finde das so furchtbar, wie allein ihr damit gelassen werdet.
Hm, von der Polizei vielleicht, und von der Krankenkasse, was eine Traumatherapie angeht. Allein gelassen fühle ich mich sonst (dankenswerterweise) nicht, was an meiner Familie und meinen Freunden liegt. Die beiden Netzwerke sind unglaublich stark, ein Brett ist nichts dagegen. Das Glück hat nicht jede_r.
In meinem Fall ist das Gerichtsverfahren ja weder eröffnet noch eingestellt, und zum Stand der Ermittlungen bekommt man als Geschädigte_r keine Auskunft…
Hi Mareike,
nichts als die Wahrheit, danke für deine Offenheit und den anderen Blickwinkel, der sich mir geöffnet hat.
Liebe Grüße Tina
Moin Tina,
schön, dass dir der Artikel da helfen konnte 🙂 Was für einen Blickwinkel hattest du denn vorher?
Cheerio
Mareike
Den Blickwinkel des “Survivor”.
In den Medien wird immer nur das Klischee ausgepackt, selten wird der Kampfgeist gezeigt, stattdessen nur die Verletzlichkeit. Wie du schon sagtest, das gibt es und jeder hat das Recht darauf! Aber es gibt auch jene Menschen, die sich schnell aufraffen, ihr Leben in der Hand behalten. Ich finde, genau das sollte auch gezeigt werden. Das macht doch Mut, oder etwa nicht? Auch Mut sich zu äußern, nicht zu schweigen, zu leben, dem Täter den Mittelfinger zeigen.
Liebe Mareike,
wow, danke für deine Offenheit. Ich bin unglaublich bewegt und beeindruckt von deiner Stärke. Ich finde es unglaublich, dass dieser Kerl sich bei dir per Facebook noch gemeldet hat und nicht mal verstanden hat, was er da getan hat. Da bleiben mir einfach die Worte weg.
Ich wünsche dir von Herzen, dass irgendwann die Flashbacks und schlaflosen Nächte erträglicher werden und vielleicht sogar verschwinden. Fühl dich von Herzen umarmt. Und nochmals danke dir für deine offenen Worte.
Liebe Grüße
Tamara
Naaaw, danke 🙂
Schlaflose Nächte hatte ich Dank Schlafstörungen schon vorher, und wenn ich sie jetzt habe, ist der Mann kein Thema davon. Die Flashbacks sind fieser, aber ich habe einen guten Umgang damit gefunden.
Ich denke halt, für den Mann ist diese Art von Sexualität “normal”. Damit will ich sein Verhalten nicht entschuldigen, aber es erklärt warum er da so stumpf war/ist. Er hat sich benommen als wäre es das Natürlichste der Welt sich so zu verhalten wie er es in der Nacht getan hat.
Cheerio
Mareike
Moin Mareike,
ich suche jetzt schon ein wenig länger nach den richtigen Worten.
Erstmal: Klasse Artikel! Toll, dass du den Mut hast das so öffentlich zu machen. Falls (WENN!) es zu einem Verfahren kommt, wünsche ich dir viel Kraft!
Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich selbst ‘nur’ sexuelle Belästigung erlebt habe bisher und auch das nicht in wirklich schlimmen Formen. Das ist nicht selbstverständlich (für meine Eltern allerdings schon, auf meiner Heimatinsel kennt quasi jeder jeden. Das ist eine nicht zu unterschätzende Kontrollinstanz).
btw. ich feier ja die Beitragsbilder <3
Liebe Grüße,
Lena
Moin Lena!
Sexuelle muss man trotzdem nicht haben, Kontrollinstanz Dorf hin oder her 😉 Aber ich bin trotzdem froh, dass du bisher “nur” das erlebt hast, muss ja nicht schlimmer werden.
Und ja, die Beitragsbilder mag ich auch. Hat Vera gut fotografiert 😀
Cheerio
Mareike
Damals, vor Jahren, ich: “Hör auf, hör bitte sofort auf!”
Er: “Ja Moment, bin gleich fertig.”
…
Und er hörte erst auf, als er befriedigt war.
Genau den selben „Dialog“, den ich erlebt habe. Ich habe Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass er in diesem Moment eine Grenze überschritten hat. Aber ich war jung, unerfahren und es war die erste große Liebe.
Manchmal möchte man das nicht realisieren bzw. kann es nicht richtig einordnen.
Heute weiß ich es besser.
Wer nein sagt, auch wenn man mitten beim Sex ist, meint auch nein. Und dann gibt es kein „schnell mal noch fertig werden und abspritzen“.
Danke für diesen Blogpost❤️
Mareike, danke. Dieser Beitrag ist so ehrlich, so verletzlich, so wichtig! Danke, dass du deine Geschichte mit uns geteilt hast, ich habe den größten Respekt vor deinem Kapfgeist und bin sehr froh, dass du trotz dieses Erlebnisses dir nicht die Lebensfreude hast nehmen lassen. Ich finde es echt toll, dass du den Kerl direkt angezeigt hast, dass du dich von ihm nicht hast verunsichern lassen und dass deine Familie und deine beste Freundin so sehr hinter dir stehen.
Dein Beitrag hat mich mit dir leiden , aber auch aufmachen lassen(die Beschreibung deiner Beziehung zu deinem pflegekater ist einfach mal herrlich!) aber ich fand ihn auch auf so vielen Ebenen augenöffnend. Danke ❤️
Ich bin total geplättet von deinem Beitrag. Du hast meine größte Bewunderung, wie du über die Vergewaltigung sprichst. Ich hoffe, du kannst damit auch anderen Mut machen, darüber offen zu sprechen und vor allem sich so zu verhalten wie sie wollen und nicht wie die Gesellschaft denkt, das man sich verhalten sollte.
Ich kann es nur wiederholen, ein wirklich toller Beitrag!
Liebe Grüße
Diana
Liebe Mareike,
ich will gar nicht viel sagen.
Ich bin baff – Du bist mutig, du stehst zu dir, du bist stark und reflektiert. Dieser Blogeintrag ist offen und unglaublich wichtig und ich möchte dir dafür danken.
Danke, dass du so bist wie du bist.
Ich meine, ich hab das schonmal gesagt, aber du bist in vielen Punkten ein Vorbild für mich.
Ganz viel Respekt und vor allem ganz, ganz, ganz viel Liebe für dich, du wunderbarer Mensch! <3
Du hast meinen größten Respekt! Gerade weil du so damit umgehst wie du es tust.
Edit Mareike:
Triggerwarnung: Sexueller Übergriff, Rape Culture, Own Voice
Liebe Mareike,
danke für deinen offenen Beitrag. Er ist mir sehr nahe gegangen und hat mir auch geholfen, Survivors und damit auch mich ein wenig besser zu verstehen. 🙂
Mir ist auch einmal etwas in der Richtung passiert und obwohl es damals nicht zum Äußersten kam, waren die Gefühle, die der Vorfall in mir ausgelöst hat, sehr widersprüchlich und verunsichernd.
Ich muss dazu sagen, dass ich damals noch ziemlich jung war (14, wenn ich mich nicht irre). Mittlerweile bin ich 29. Es ist also wirklich schon lange her, aber es hat meinen Blick auf potentielle oder tatsächliche Täter nachhaltig geprägt. Der Täter war damals jemand aus der Familie: der Ehemann der Tante meiner Halbgeschwister. Eigentlich mag ich es nicht, meine Brüder und meine Schwester als Halbgeschwister zu bezeichnen. Geschwister sind Geschwister. Aber noch heute habe ich das Bedürfnis, mich so weit wie möglich von diesem Mann zu distanzieren. Damals hatten wir zu Hause noch kein Internet, denn es war teuer, meine Eltern sahen keinen Sinn darin und hatten auch keine Ahnung von sowas. Also bin ich gelegentlich zu dieser Tante gefahren, um dort etwas zu surfen und zu chatten. Der PC stand etwas versteckt in einer Ecke im Wohnzimmer. Von dort aus konnte man auf die Couch blicken. Wie auch immer. Als ich ankam öffnete mir dieser Typ die Tür. [Meine] Tante lag auf dem Sofa und schlief. Sie war zu dem Zeitpunkt hochschwanger mit dem 2. Kind. Er meinte, er müsse noch eben etwas am PC erledigen, dann könnte ich ran. Ich solle mich aber schon einmal davor setzen. Okay, also setzte ich mich auf den Stuhl neben seinem und wartete, während er sich erst einmal knallhart Pornos runterlud. Das allein fand ich schon unangenehm. Ich meine, ich bin aufgeklärt und locker erzogen worden, aber ich finde, dass in dem Moment schon klar eine Grenze überschritten wurde. Dann fing er an, sich einen von denen anzusehen und sich dabei einen runterzuholen, wobei er mich immer wieder ansah. Wie gesagt, ich saß unmittelbar neben ihm und konnte unmöglich ignorieren oder nicht mitbekommen, was er da tat. Irgendwann kam er dann und der Spuk war vorbei. Ich wusste überhaupt nicht, wie ich mich verhalten sollte, schließlich lag seine Frau in Luftlinie 4 m Entfernung auf der Couch. Na ja. Ich surfte also im Internet, was jedoch ein extrem kurzer “Spaß” war und irgendwann verabschiedete ich mich dann schon nach kurzer Zeit unter einem Vorwand. Hauptsache weg. An der Tür bläute er mir noch einmal an, dass das unter uns bleiben solle und ich das niemandem zu erzählen habe. Ich nickte, verließ das Haus und fuhr mit meinem Fahrrad dann so schnell wie möglich nach Hause.
Erst am nächsten Tag habe ich es dann meinem Stiefvater erzählt (der Bruder der oben genannten). Er war schockiert, reagierte jedoch mit sehr viel Ruhe und Verständnis und kümmerte sich auch sofort um alles. Meine Mutter fuhr mit mir noch am selben Tag zur Polizei, um Anzeige zu erstatten. Im Präsidium fühlte ich mich überhaupt nicht ernstgenommen. Ich hatte das Gefühl, man würde mir nicht glauben, zumal ich lieber mit einer Frau als einem Mann gesprochen hätte. Aber dass das unter Umständen nicht ging, war nicht das Problem. Der Polizeibeamte meinte halt, dass man da sowieso nichts machen könne, aber wenn ich “unbedingt” Anzeige erstatten wolle, würde er meine Aussage nun aufnehmen und so weiter. Außerdem solle ich nicht vergessen, welche familiären Probleme eine Anzeige auslösen würde. Ich glaube, der hatte seinen Beruf verfehlt.
Die Reaktion der Familie meines Stiefvaters war ebenfalls unter aller Sau, auch wenn sie erst später einsetzte. Sein Vater meinte, ich solle mich nicht so anstellen und ich müsste mich auch nicht wundern, dass so etwas passieren konnte, so wie ich immer rumlaufen würde. Keine Ahnung, was er damit meinte, denn ich trug zu der Zeit am liebsten Jeans und Rollkragenpulli… Die Mutter meinte, ich solle mich für das schämen, was ich der armen S. (Tante) damit antäte. Der U. (der Typ) müsse nun eine Geldstrafe von 750,00 € leisten und (ich glaube) 30 Pflichtstunden bei einem Psychiater absitzen. Ich hätte mich ja wohl nicht so anstellen müssen und wahrscheinlich hätte ich ja sowieso nur übertrieben.
Die hatten mich fast soweit, dass ich das selbst glaubte… Ganz oft war da der Gedanke “aber er hat mich ja nicht angefasst”, oder “es war ja keine Vergewaltigung”. Stimmt. Es kam nicht zum Geschlechtsverkehr. Aber er hat meinen Kopf gefickt, was ich spätestens dann merkte, als ich in dem kleinen Ort im Supermarkt an der Kasse stand und ich ihn hinter mir sah. Ich wurde panisch, bekam Herzrasen und bin dann regelrecht geflüchtet, wobei ich meine Klamotten einfach auf dem Kassenband liegen ließ. Ich hatte Schiss vor ihm. Da war immer die Angst “Was, wenn das nur der Anfang war? Was, wenn er mich wirklich vergewaltigt?”. Von dem Vertrauensbruch möchte ich gar nicht erst anfangen…
Ich habe den Mann seitdem nie wieder gesehen. Keines meiner Geschwister durfte wieder dorthin. Wenn sie mit ihrem Cousin spielen wollten, musste S. ihn zu uns bringen. Ich konnte schon am dritten Tag wieder ganz normal lachen, was aber blieb, war eine irrationale Angst vor einem bestimmten Typ Mann. Außerdem entwickelte ich einige Monate danach Depressionen, wegen derer ich schließlich auch in Behandlung war. Ich habe mich damals viel mit der Frage auseinandergesetzt, ob ich jetzt irgendeine Erwartungshaltung erfüllen musste. Musste ich verstört sein? Wollte ich doch aber nicht, denn ich wollte nicht, dass es jemand erfuhr. Andererseits wollte ich es der ganzen Welt erzählen, weil ich mich beschissen fühlte und glaubte, mich rechtfertigen zu müssen. Durfte ich überhaupt noch lachen, oder ausgelassen sein? War es in Ordnung ein Interesse an Jungs zu haben bzw. an Mädels? Damals hatte sich schon heraus kristallisiert, dass ich beides mochte. Trotzdem war ich ein Spätzünder und habe meine ersten richtigen sexuellen Erfahrungen erst ziemlich spät gemacht. Ob es da eine Wechselwirkung gab, kann ich nicht sagen. Heute empfinde ich meine Sexualität als normal und aufgeschlossen.
Mein Kommentar ist jetzt etwas ausgeufert, aber dein Artikel hat mich einfach dazu ermuntert, einmal offen darüber zu schreiben, ohne Angst haben zu müssen, dass meine Erfahrungen als nichtig deklariert werden… Im engeren Bekanntenkreis kann ich offen darüber sprechen, auch wenn ich die Sache da oft selbst etwas relativiere, oder gar ins Lächerliche ziehe, aus Angst, man könnte mich belächeln, obwohl das Blödsinn ist.
Dieser Vorfall und die zerrüttete Beziehung (sofern überhaupt existent) zu meinem leiblichen Vater haben, meiner Meinung nach, mein Verhältnis zu Männern nachhaltig gestört. Ich bin zwar in einer langjährigen Beziehung und sehe auch nicht in jedem Mann den Teufel, aber ganz oft übernimmt dann eben auf emotionaler Ebene der Autopilot die Kontrolle. In solchen Momenten rechne ich mit Zurückweisung, Vertrauensbruch und damit, dass man(n) mich gerade bewusst manipuliert, um einen Nutzen daraus zu ziehen. Meistens sind diese Ängste irrational und durch einen Trigger ausgelöst, aber ich reagiere immer damit, dass ich gegen diese Person schieße, um mich selbst zu schützen.
Im Nachhinein kam übrigens heraus, dass U. diese Dinge auch bei anderen Frauen (bei meiner Mutter, seiner Schwester und einer Bekannten) getan hatte…
Das war’s. Mehr habe ich gerade dazu nicht mehr zu sagen… Vielen Danke noch einmal für deine Ehrlichtkeit und Offenheit. Ich glaube, dass du damit vielen Frauen helfen kannst, offener mit ihren Erfahrungen umzugehen und vielleicht auch mit einem frischen Blick auf ihr Selbstbild zu schauen.
Lieben Gruß
Lydia 🙂