Wir versammeln uns wieder in unserer Gruppentherapie. Meine Hände sind klamm, ich bin nervös.
„Schön euch alle wieder zu sehen! Ich hatte euch ja beim letzten Mal eine Aufgabe mitgegeben. Wer möchte mit seiner Geschichte beginnen?“, fragte die Therapeutin.
Ich hob zögernd die Hand und sah auf den Boden.
„Ah, Mareike, danke!“
Ich hörte sie lächeln.
„Hallo
Mein wahrer Name ist Julie.
Ich habe einen Serienmörder überlebt, damals in LA.
Er hat seine Opfer vor eine Webcam gesetzt und das Internet abstimmen lassen, ob sie leben oder sterben. Auch über mich ließ er abstimmen – ich sollte sterben. Mir sollten Drähte das Gesicht zerfetzen, den darunterliegenden Knochen, mein Gehirn…
Zum Glück hatte seine Maschine eine Fehlfunktion. Oder… dummerweise?
Nachdem ich gerettet wurde, fühlte ich mich erstmal richtig hässlich. Ich wäre lieber in dem Käfig gestorben, denn mit diesem Gesicht nach draußen? Niemals.
Die Ärzte taten alles, was sie konnten, und machten aus meinem Hackfleischgesicht ein weniger hackfleischiges Gesicht
…aber…
Inzwischen weiß ich aber, dass er mich einzigartig gemacht hat. Ich meine, seht mich an! Die Schnitte sind asymmetrisch und geben meinem Gesicht etwas Markantes.
SEHT MICH AN!“
Ich zückte einen Taschenspiegel, in dem statt des Spiegels ein Foto von meinem früheren Gesicht zu sehen war.
„Hier. So sah ich früher aus. Hübsch, aber langweilig, nicht? Mit den Narben bin ich vielleicht nicht mehr hübsch, aber außergewöhnlich.“
Ich betrachtete nachdenklich das Foto.
„Und er wird wiederkommen.
Da bin ich mir sicher.
Er ist bestimmt schon wieder da und sucht nach mir.
Ob er mich wiedererkennt mit den Narben? Die werden nie verheilen. Es gibt keine Creme und keine Methode, die wirklich erfolgsversprechend wäre um mein Gesicht wieder herzustellen.
Ob er sein eigenes Werk erkennt?
Ich will nicht, dass er mich findet. Den Schmerz kann ich nicht nochmal aushalten.
Und hinterher bin ich noch außergewöhnlicher.
Ich will doch nur wieder hübsch und durchschnittlich sein.
Aber die Ärzte sagen, sie können nichts mehr tun.
Dabei habe ich alles getan.
Wisst ihr, ich habe sogar Gesichter gesucht. Und wenn ich eins gefunden hatte, habe ich es mir genommen. Natürlich nur von Toten. Das erste Gesicht hat so geschrien, als ich es mir nehmen wollte.
Also nur von Toten.
Die sind so still. Aber die eine war so dreckig, da klebte so viel Erde an ihr. Und so komisches Wachs. Benutzen das die Bestatter heutzutage? Komisch, da kann man die Gesichter doch gar nicht benutzen.
Ich wollte ein wachsfreies Gesicht.
Geschminkt war okay, aber kein Wachs.
Letztens habe ich wieder eins gesehen. Das hat total hübsch gelächelt.
Ich habe es auf einen Tee eingeladen.
Der beruhigt.
Auch das Herz.
Bis es still ist.
Und wenn es lange still war, und das Gesicht entspannt ist, kann ich es mir nehmen.“
Zwei Patietinnen tauschten ängstliche Blicke. Eine berührte ihr Gesicht. Keine Bange, deins will ich nicht. Es passt nicht zu mir… Ich schaute die beiden an und erzählte weiter:
„Wisst ihr, wie schwer das ist? Ein Gesicht zu nehmen?
Man muss gleichmäßig unter der Fettschicht unter der Haut langschneiden, am besten mit einem scharfen, gekrümmten Skalpell. Und dann langsam und vorsichtig schneiden, nicht säbeln, sonst verletzt man das Gesicht und dann kann man es nicht mehr gebrauchen. Und wenn es an einer Stelle zu dünn ist, kann es sein, dass das neue Gesicht über meinen Wangenknochen reißt, wenn ich es benutzen will.
Ich habe schöne, hohe Wangenknochen. Wie Keira Knightley.
Aber ihr Gesicht will ich nicht.
Das ist zu bekannt.
Dann findet er mich.
Ich will nicht, dass er mich findet.
Ich brauche ein neues Gesicht.
Weiß jemand von euch, wo ich ein neues Gesicht herbekomme?“
Die anderen in der Gruppe sahen mich komisch an, keiner sagte etwas. Ich umklammerte meinen Spiegel und sank in meinen Stuhl zurück. Neben mir saß ein junges Mädchen, die immer nervös mit den Füßen wippte. Sie machte mich wahnsinnig. Aber sie schien nun selbst erzählen zu wollen. Von mir aus. Ich betrachtete ihr Gesicht. Wären da nicht die hektischen Flecken gewesen, wäre es wirklich hübsch gewesen….
Sie sagte, sie heißt Anna.
Die Blogtour Die Abgründe der Bücherwelten findet zu der Erzählung Uns geht’s alles total gut von Daryl Gregory statt, die bei Fischer Tor als eBook erschienen ist.
Jede Teilnehmerin dieser Blogtour ist entweder eine Leserin, die nicht so richtig aus den Buchwelten aufgetaucht ist, oder ein Buchcharakter, der traumatisches erlebt hat. Könnt ihr erraten, wer wir alle sind? Ratet gerne mit, denn es gibt sogar etwas zu gewinnen. Für die Teilnahmebedingungen und das Kleingedruckte bitte einmal bei unserer Therapeutin Vanessa vorbeigucken.
Der Tourplan der Bekloppten
Montag: Vanessa
Dienstag: Ich
Mittwoch: Anna
Donnerstag: Patty
Freitag: Bianca
Guten Morgen!
Kennst du schon unsere Gruppe für Blogtouren auf Facebook? Vielleicht magst du ja mal vorbeischauen? 🙂
Wir halten da alles aktuell und verlinken die Beiträge, damit man immer alles im Blick hat und nichts verpasst – bei den vielen Touren verliert man ja leicht den Überblick 😉
https://www.facebook.com/groups/981737925190683/
Liebste Grüße, Aleshanee
Ahoi Aleshanee!
Die kannte ich bisher noch nicht. Ich schaue gerne mal rein, danke!
Cheerio
Mareike
Liebe Mareike… ääh Julie.
deine Geschichte schafft es auch nach dem dritten oder vierten Lesen eine Gänsehaut hervorzurufen. Ich musste erst einmal mein Gesicht befühlen, um sicherzugehen, dass noch alles an Ort und Stelle ist. Einfach sehr gut geschrieben.
Alles Liebe
Patty
Hallo Patty,
Danke für die Blumen. Wenns dich immer noch gruselt, hat die Geschichte ihren Auftrag erfüllt.
Cheerio,
Mareike
Ich muss mich Patty da auf jeden Fall anschließen, es ist immer wieder schaurig schön und ich bin froh, dass es so vielseitig geworden ist/werden wird. =)
Hallo,
der Beitrag ist ja wirklich toll geworden und konnte mich beim Lesen sehr fesseln… vielen Dank 🙂
LG
Danke schön ^_^
Hey Mareike,
wow, das hast du echt gut geschrieben. Hat mich total gefesselt und fasziniert! Ich liebe solche Schauergeschichten! Ich musste erst an “anonym” von Poznanski und Strobel denken. In dem Buch wurden auch Menschen vor laufender Kamera ermordet. Jetzt weiß ich aber, dass du ein anderes Buch meintest. Vielleicht sollte ich das mal lesen 🙂
Liebe Grüße
Charline