Kaum eine andere soziale Gruppe muss sich dermaßen für ihr Konsumverhalten und ihre materiellen Wünsche rechtfertigen wie arme Menschen. Ob nun die Wahl des Supermarktes, der Freizeitbeschäftigung oder der Kleidung, alles unterliegt der genauen Beobachtung durch finanziell besser Gestellte. Sollten die Armen unverschämterweise mehr wünschen, als ihr Status erlaubt, erfolgt direkt die Maßregelung.
Sehr schön beobachten konnte man dies 2019 unter dem Hashtag #wish2hand, unter dem Menschen auf der einen Seite Dinge gepostet haben, die ein neues Zuhause suchen, auf der anderen Seite konnten Menschen ihre Wünsche in der Hoffnung posten, dass genau dieses Gewünschte bei jemandem verstaubt. Neben Büchern, etwas Schminke oder DVDs äußerten manche auch den Wunsch nach einem funktionierendem Smartphone oder Tablet. Wünsche, die für diejenigen nicht finanzierbar waren. Und natürlich kamen auch dort sofort Menschen mit dem erhobenen Zeigefinger und spielten sich als Moralapostel der Nation auf. Dass solche “teuren” Wünsche doch eindeutig zu weit gingen. Dass man doch bescheidener bei den Wünschen sein solle, wenn man schon auf die milden Gaben anderer angewiesen sei. Das Interessante dabei: Tatsächlich haben andere Smartphones, Tablets, Digitalkameras und Konsolen verschenkt, ohne besagten moralischen Zeigefinger als kostenlose Dreingabe mitzuschenken.
Das romantisierte Bild von Armut und armen Menschen (diese sind stets bescheiden, genügsam, moralisch gut, etc.) muss an anderer Stelle eingehender besprochen werden. Hier muss genügen, dass sich dieses Bild des zurückhaltenden Armen, der ein leises, unauffälliges Leben führt, tief in das gesellschaftliche Narrativ eingeschrieben hat. Bricht eine arme Person mit diesem Narrativ, wird sofort versucht, sie wieder auf den ihr zugewiesenen Platz mit den dazugehörigen Verhaltensweisen zu verweisen.
Auf der anderen Seite werden an arme Menschen die gleichen Erwartungen gestellt wie an besser Situierte und Reiche. Gerade beim Konsumverhalten in Hinblick auf ökologische Verantwortung, Umweltschutz und Nachhaltigkeit wird die Situation und Lebensrealität von Armen schnell in den Hintergrund gedrängt und unsichtbar gemacht. Ob unverpackte Lebensmittel, regionales und saisonales Obst und Gemüse, Bio-Produkte oder Berücksichtigung der CO2 Bilanz, die Finanzierbarkeit eines solchen Lebensstils wird grundsätzlich vorausgesetzt bzw. die Nicht-Finanzierbarkeit nur von jenen angeführt, die sich für die Anliegen von Menschen in prekären Lebenssituationen interessieren oder anders damit zu tun haben.
Neue Kleider braucht der Mensch
Ein besonderer Punkt des Konsumverhaltens, speziell unter ökologischen Gesichtspunkten, ist Kleidung. 4,4 % des Nettolohnes werden monatlich in Deutschland durchschnittlich für Kleidung ausgegeben. Bei Mindestlohn und Vollzeit sind das um die 50 €, zumindest theoretisch. Denn praktisch muss man diese 50 € erstmal übrig haben neben den Ausgaben für Miete, Versicherungen und Lebensmitteln.
Doch selbst diese 50 € monatlich sind zu wenig für nachhaltig produzierte Kleidung, wenn ein Kleid 150 € kostet und auch Pullover bei 80 € aufwärts liegen.
Fast ein Segen für arme Menschen sind daher Läden wie Kik und Primark, wobei Primark deutlich favorisiert wird, da die Kleidung dort moderner, modischer erscheint. Zumal man für eben angeführte 50 € gut und gern ein komplettes Outfit inkl. Unterwäsche und Schuhe bei Primark bekommt, bei etwas teureren Ketten wie Tom Tailor oder C&A nur wenige Kleidungsstücke.
Dass die Arbeitsbedingungen, unter denen die Kleidung hergestellt wird, menschenverachtend sind, ist bekannt. Dass allerdings die Arbeitsbedingungen von anderen Ketten wie H&M und New Yorker nicht unbedingt besser sind, sondern diese in den gleichen Ländern, tlw. sogar in den gleichen Fabriken, produzieren lassen, wird selten in einem Atemzug erwähnt. Stattdessen werden die Menschen geshamed, die bei Primark einkaufen. Überhebliche Sprüche wie die im untenstehenden Tweet sind nur ein Beispiel. Stattdessen solle man doch auf Second Hand zurückgreifen, das sei billiger und nachhaltiger. Bei solchen gönnerhaften, belehrenden, ungebetenen Ratschlägen ist man kurz sprachlos.
Natürlich muss man sich klar darüber sein, dass ein T-Shirt für 3 € und Schuhe für 8 € nicht unter menschenwürdigen Bedingungen hergestellt werden. Gerne wird immer wieder betont, dass die Konsument:innen mit ihrem Kauf eine Entscheidung treffen, quasi auch eine Meinung abgeben: Was sind ihnen Konsumgüter und die Begleitumstände, bspw. menschenwürdige Arbeitsbedingungen und faire Löhne, wert.
Die Verantwortung für die Herstellungsbedingungen dafür aber einzig den Konsument:innen, speziell den armen, zuzuschreiben, ist der falsche Ansatz. Immerhin sind gerade Arme ebenso im System gefangen, wenn auch in einem reicheren Land, und haben ob ihrer relativen Armut hier wenig Möglichkeiten oder Alternativen.
Second Hand, der Heilige Mief
Der nächste Satz wird den fingerschwingenden Moralaposteln nicht gefallen, aber: Second Hand ist nicht die Lösung. Second Hand ist nicht zwingend günstiger, oft sogar deutlich teurer, weil „Vintage” derzeit in Mode ist. Das, was vielleicht unter den Preisen von Primark liegt, sieht dann auch aus wie ausgelatschte Krampfadern mit Federn, passt und sitzt nicht richtig oder entspricht schlichtweg nicht dem eigenen Geschmack.
Eigener Stil und Geschmack scheinen etwas zu sein, auf das man erst ab einem gewissen Einkommen oder Unabhängigkeit Anspruch hat. Wer kennt es nicht, dass Oma Lotte von nebenan sagt, sie gebe Obdachlosen statt Geld lieber etwas zu essen, weil diese das sonst ja “nur für Alkohol und Drogen ausgeben.” Und wenn jemand wagt, das Essen abzulehnen, ist diese Person ja anscheinend doch nicht so bedürftig.
Diese Haltung ist übergriffig. Auch wohnungslos darf man bestimmte Dinge nicht mögen, es können Allergien eine Rolle spielen und was Alkohol und Drogen angeht: Ein kalter Entzug auf der Straße ist gefährlich, im Winter sogar lebensbedrohlich. Und wessen Chef:in stellt Ansprüche mit dem monatlichen Gehalt einhergehende Ansprüche, wofür man dieses auszugeben oder eben nicht auszugeben habe?