Titel: Nichts, was uns passiert (affiliate Link) | Autorin: Bettina Wilpert | Verlag: Verbrecher Verlag
Triggerwarnung
Vergewaltigung, Rape Culture
Worum geht’s?
Es ist Sommer in Leipzig, in dem Jahr, in dem Deutschland zum vierten Mal Fußballweltmeister wurde. Anna wird Jonas vorgestellt, und durch hitzige Diskussionen und Ähnlichkeiten entwickelt sich langsam eine Anziehungskraft. Es soll zwar nichts ernstes sein, ein One Night Stand heißt ja noch nichts, aber sie laufen sich immer wieder über den Weg und kommen gut miteinander aus.
Dann kommt die Geburtstagsfeier und der Alkohol. Und Anna sagt über die Nacht, dass Jonas sie vergewaltigt hat. Und Jonas sagt, es war einvernehmlich. Und am schlimmsten: auf einmal haben alle eine Meinung.
“Opfer kommt von opfern. Sie hat Jonas nichts geopfert. Er hat sich genommen, was er wollte.“ (S.66)
Wie war’s?
Kann man eine Geschichte über sexualisierte Gewalt und Rape Culture auf 165 schreiben und dem Thema annähernd gerecht werden? Wenn man Bettina Wilpert heißt, schon.
Der Sommer und seine Geschichte werden Rückblickend von verschiedenen Personen erzählt, vor allem von Anna und Jonas. Durch den steten Perspektivwechsel sieht man, wie unterschiedlich zwei Menschen ein und dieselbe Situation wahrnehmen können.
„…es war einvernehmlich, schließlich benutzte er ein Kondom.“ (S. 87)
Wilperts Roman geht nahe. Man begleitet einige Menschen, Freunde Ende 20, durch den Sommer, der im Nachhinein von allen analysiert wird und über dem der Schatten der Geschehnisse liegt: Ein Freund soll eine Freundin vergewaltigt haben. Wem glaubt man? Wie positioniert man sich? Welche Konsequenzen hat das eigene Handeln?
Als Leser_in kennt man alle Sichtweisen, hat aber trotzdem keine Objektive Schilderung von dem, was passiert ist. Man muss sich wie Annas und Jonas Freunde darauf verlassen, was die beiden erzählen, auch wenn es etwas gebündelter ist. Spätestens zwischen den Zeilen merkt man allerdings, wie die Nacht wohl abgelaufen ist, und das macht viele Reaktionen im Buch unfassbar unerträglich.
Was die Reaktionen auch so schwer auszuhalten macht: sie sind unglaublich realitätsnah.
Der Polizist, der meint, Anna hätte zu viel getrunken.
Die Mutter von Jonas, die Anna als krank bezeichnet, ihr Goldjunge sei ein guter Junge, er würde sie niemals anlügen.
Annas Mitbewohnerin, die Annas verändertes Sexualleben mit wechselnden Partnern abwertend kommentierte und glaubt, dadurch Rückschlüsse ziehen zu können.
Ein Freund, der, als Anna ihm erzählte was passiert war, ihr sagte, dass er sich das nicht vorstellen könne, nicht bei Jonas. Und der nicht begreift, was es im Umkehrschluss bedeutet.
Jeder hat auf einmal eine Meinung zu dieser Nacht, jeder macht sich seinen eigenen Reim. Das ist vielleicht das Schlimmste.
In diesen Reaktionen steckt so viel verinnerlichte Rape Culture, dass es wehtut. Wilpert schafft es dabei, die Figuren nicht unsympathisch zu zeichnen, sondern als Menschen, die man selbst im Umfeld hat oder haben könnte, die Vergewaltigung verurteilen, aber eben auch der der vergewaltigten Person nach Fehlern suchen. Das nennt man Victim Blaming, und es ist bezeichnend, dass bei einem solchen Tatverdacht immer erst nach Schuld und Lüge beim Opfer gesucht wird.
„Nie wird als erstes gefragt: ist er schuldig? Sondern: hat sie gelogen?“ (S. 137)
Dieser Roman schildert die Dimension einer Vergewaltigung in vielen Facetten, in allen kann das kein Roman, auch nicht auf 1000 Seiten. Aber was das Thema Vergewaltigung für Frauen bedeutet, wie es ist, ein Survivor zu sein und sich mit Rape Culture konfrontiert zu sehen, die Reaktionen von Anna, die viele nicht verstehen können und nicht in das Konzept der Vergewaltigungsmythen passen…all das findet man in Nichts, was uns passiert und muss es aushalten.
So wenige Seiten, so viel Dichte. Nichts, was uns passiert ist eindeutig eins meiner Jahreshighlights!
Vielen Dank für deine Meinung, mich hat sie so neugierig gemacht, dass ich es auhc lesen muss.
Hallo,
auch mich hast du mit der Rezension überzeugt! Das Buch wandert auf meine Warteschlange, und eine Leseprobe auf meinen Kindle!
LG,
Daniela
über #litnetzwerk
Ooh, das freut mich 🙂 Ich hoffe, es gefällt dir!
Nach deiner Twitterei zu dem Buch, war ich ja mega gespannt auf deine Rezi und finde nun endlich Zeit für einen Besuch!
Bei der Seitenzahl kam ich auch ins grübeln, aber so wie du das Buch wiedergibst will ich es definitiv auch lesen und es wandert nach ganz oben auf meine Wunschliste!
Hab einen erholsamen Urlaub! :-*
Hallöchen,
mir hat sich gerade nur vom Lesen deiner Rezension die Brust zusammengezogen. Ich finde dieses Thema wirklich schlimm, kann mir aber vorstellen, dass es in diesem Buch realitätsnah dargestellt wird.
Ich bin mir gerade unsicher, ob ich das Buch auf meine Wunschliste setzen soll oder nicht. Weil es interessant klingt, aber eben auch so hart.
Liebste Grüße, Kate
Moin Kate!
Setz’ das Buch auf die Wunschliste. Ja, es ist hart – aber es lohnt sich wirklich. Es ist einfach unfassbar gut geschrieben, und beschreibt die Story ohne in schmierige Klischees oder Plattitüden anzudriften. Wenn du es nicht an einem Stück lesen magst, lies es vielleicht in Etappen?
Cheerio
Mari
Okay, du hast mich überzeugt. Wie oft kommt es vor, dass so eine Situation thematisiert wird, aber vollkommen falsch dargestellt wird. Es ist gut, mal eine Variante zu lesen, in der sich auch kritisch damit auseinandergesetzt wird.
Liebste Grüße